Rede zum Holocaust Gedenktag in Kislau

Bürgermeister Huge und Gemeinderätin Angelika Messmer vor der Gedenkstele in Kislau

Gemeinderätin Angelika Messmer

Schluss damit! Es muss doch endlich mal Ruhe sein- vorbei ist das- man muss auch vergessen können- was hat das noch mit uns zu tun- schon wieder Holocaust.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Wer kennt sie nicht diese und ähnliche Argumente, wer hat sie noch nicht gehört und gesehen all diese Verdränger, Entsorger, die glücklich-Spätgeborenen, die begnadeten Augen- zu- Kneifer in unserem Land? Warum fällt es uns mehr als 70 Jahre danach noch so schwer, uns unserer geschichtlichen Verantwortung zu stellen?

Weil Scham, Schuld, Reue und Bekenntnis angesichts des begangenen Verbrechens selten ein Bestandteil der individuellen Erinnerung unserer Eltern und Großeltern wurden. Vielmehr tauchten in der familiären Erinnerung oft Verharmlosung und angebliches Nichtwissen auf. Beteiligte Familienmitglieder wurden sogar als Opfer oder Helden geschildert. Täter erklären sich zu Verführten, Mitläufer zu Opfern. Sie entzogen sich ihrer Verantwortung- und Sie verkehrten die Opfer –Täter –Rolle.

Das Erbe das dadurch uns nachfolgenden Generationen bleibt, ist sich dieser geschichtlichen Verantwortung zu stellen, derer sich unsere Eltern und Großeltern entzogen haben. Nehmen wir diese Verantwortung an die meines Erachtens auf folgenden vier zentralen Aspekten beruht:
1. Dem Wahrheitsgemäßen Erinnern.
2. Der Fürsorge für Recht und Gerechtigkeit.
3. Der Erziehung zur Menschlichkeit.
4. Der Verantwortung für Freiheit und Demokratie.

Das heißt heute für uns:
Sich wahrheitsgemäß erinnern: Erinnern an die Millionen Menschen, die von den Nazis entrechtet, verfolgt, gequält und ermordet wurden. Das sind wir den Opfern und den mutigen Widerstandskämpfern schuldig, die dafür ihr Leben ließen.
Erinnern bedeutet auch, Sie dem Vergessen zu entreißen, Ihnen ihre Identität und ihre Namen und damit ihre Würde zurückzugeben und nicht in anonymer, staatspolitischer Weise „der Opfer des Nationalsozialismus“ zu gedenken, sondern erzählen wir die Geschichte dieses Vaters, dieser Mutter, dieses Mädchens, dieses Jungen, dieser Frau, dieses Mannes, denn die Millionen ermordeten Menschen sind einer und einer und einer…

Zu dieser Verantwortung gehört auch: Die Fürsorge für Recht und Gerechtigkeit.
Im Judentum gilt das Gebot der Gerechtigkeit für alle Menschen gleichermaßen. Recht tun und Recht fordern ist ein Grundsatz jüdischer Lebensanschauung und gehört zu den sieben elementaren Vorschriften im Judentum. So ruht auf diesen drei Dingen die Welt: auf Wahrheit, auf Recht, auf Frieden. In der Bibel steht dazu „Übt Recht und Gerechtigkeit und rettet die Beraubten aus der Hand des Unterdrückers. (Jer.22,3)

Ebenso gehört zu unserer Verantwortung die Erziehung zur Menschlichkeit:
Der Direktor eines amerikanischen Lyzeums pflegte zu Beginn eines jeden Schuljahres an die Lehrer seiner Schule Folgendes zu schreiben: Lieber Kollege, ich habe das Konzentrationslager überlebt. Meine Augen haben gesehen, was kein Mensch je sehen sollte: Gaskammern, von gebildeten Ingenieuren erbaut, Kinder von Ärzten vergiftet, die wussten was sie taten. Säuglinge von erfahrenen Pflegerinnen getötet, Frauen und Kinder von Menschen getötet und verbrannt, die das Abitur bestanden und die Universität abgeschlossen hatten. Deshalb misstraue ich der Bildung. Mein Anliegen ist: Helft euren Schülern MENSCHEN zu werden. Das Ergebnis eurer Mühen dürfen nicht wohlerzogene Monster sein, qualifizierte Psychopathen, gebildete Eichmanns. Lesen, schreiben, rechnen sind unwichtig, wenn Sie nicht dazu dienen, unsere Kinder zu mehr Menschlichkeit hinzuführen. (Der Direktor)

Die Verantwortung für Freiheit und Demokratie als letztes wichtiges Ziel.
Das jüdische Ehepaar F. und M. Langer, die sich nach dem Krieg in einem Waisenhaus in Krakau kennenlernten und 1950 nach Israel auswanderten, kamen 40Jahre später zu ihrem in Deutschland lebenden Sohn.
Ich zitiere: „Gerade waren wir in Deutschland angekommen. Und natürlich hatten wir es gesehen. Das Hakenkreuz groß und hässlich gepinselt an die Wand eines Supermarktes. Wir waren schockiert und wie gelähmt. Nachts sind wir dann losgezogen, mit Sprühflaschen in der Handtasche, weil wir es nicht mehr ertragen konnten. Doch als wir am Supermarkt ankamen, strahlte uns eine Sonne entgegen. Jemand anderes hatte es bereits erledigt. Wir waren glücklich“!

„Ewige Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit„ sagte der aus Baden stammende Jurist Robert Kempner. Sorgen wir dafür, dass ein lebendiges Erinnern in unserem kollektiven Gedächtnis verankert bleibt, damit solch ein Verbrechen niemals wieder unter aller Augen geschehen kann und bewahren wir uns das Erschauern vor dem Geschehenen, damit wir uns die Widerstandskraft unserer Menschlichkeit erhalten, denn es gilt auszuhalten, dass der Tod ein Meister aus Deutschland war.

Verneigen wir uns also heute und für immer vor den Opfern und den wahren Helden des Widerstands und hier und heute vor Ludwig Marum, der gestorben ist für die Freiheit.

Gedenkrede an der Ludwig Marum Stele Schloss Kislau anlässlich des Holocaust Gedenktages 2016 in Bad Schönborn